Vorbemerkung
Je mehr ich lesen, forsche, das Leben zu verstehen suche, desto überzeugender wird mir, dass die Wahrheit meist nicht in Extremen liegt. Sicher gibt es einzelne (erkenntnistheoretische) Aussagen, die für mich eine Absolutheit und Einzigartigkeit darstellen und nicht überbietbar sind. Dazu würde ich die Aussage Jesu – „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ Johannes 14,6) – zählen. Dieser Ausspruch ist entweder absolut oder unwahr. Es gibt nicht ein „Jesus und…„. Eine andere Aussage bezieht sich m. E. auf das kürzeste nur durch den Geist Gottes verwirklichte Bekenntnis im Neuen Testament – „Herr (ist) Jesus – Kyrios Jesous“ (1.Korintherbrief 12,3). Jesus wird vom Glaubenden als der absolute und höchste Herr über die gesamte Wirklichkeit anerkannt. Beide Aussagen liegen für mich auf derselben erkenntnistheoretischen Ebene wie die Aussage „Ein Kreis ist rund.“ Es ist – in dieser Linie gedacht – nicht möglich, von einem „runden Quadrat“ auszugehen.
Daneben gibt es jedoch Aussagen über die Wirklichkeit, die nur komplementär oder in Verbindung zueinander die Wirklichkeit der Welt sachgemäß beschreiben. Man könnte sich in diesem Zusammenhang an die Mesotes-Lehre des Aristoteles anlehnen, der z. B. bei den Tugenden annahm, dass „Tugend immer eine Mitte (mesotês) zwischen zwei fehler- oder lasterhaften Extremen sei“ (Rapp 2002:17). Wer bei Aussagen auf dieser erkenntnistheoretischen Ebene in ein Extrem abdriftet, verkennt die ganze Wirklichkeit und argumentiert einseitig. Auf die Spitze getrieben führen solche Trends und Denkweisen zur Radikalisierung und letztlich schaden sie mehr als das sie etwas nutzen. Wer hier in Extremen denkt und interpretiert, wird auf Dauer auch unglaubwürdig.
Die Offenbarung Gottes – in Extremen gedacht

Ryan A. Brandt stellt in der Einführung seiner Dissertation zwei Grundverständnisse von ‚Offenbarung‘ vor, die beide irren, wenn sie sich nicht als kohärente Einheit verstehen. Seine Ausführungen gebe im Folgenden zusammenfassend wieder.
Brandt: Die zwei Positionen zur Offenbarung Gottes
Das Konzept der ‚Offenbarung‘ ist zentral für das Christentum. Es verwundert daher nicht, dass viele Theologen ihre systematische Theologien mit der Lehre der ‚Offenbarung‘ begonnen haben. [Zu denken ist hier insbesondere an Karl Barth, der wohl wie kein anderer die ‚Offenbarung Gottes‘ zum Zentrum seiner Theologie erklärt hat.]
Trotz der zentralen Bedeutung dieses Konzepts scheinen zwei Grundverständnisse einander gegenüber zu stehen. Das Problem ist nicht die Verschiedenartigkeit der Ansätze, sondern ihr gegenseitiger Anspruch auf eine ultimative Herrschaft.
Die eine Position betont die externe bzw. objektive Dimension der Offenbarung. Hier kommt die Offenbarung als externe Quelle, die sich als Enthüllung von Informationen versteht. Vertreter dieser Position betonen den Informationsgehalt der Heiligen Schrift (Bibel), des Kosmos und/oder der (Heils-)Geschichte. Die andere Position betont allein die interne bzw. subjektive Dimension der Offenbarung. Hier geschieht die Offenbarung im menschlichen Subjekt selbst und zeigt sich in der Veränderung des Bewusstsein (durch eine mystische oder dialektische Begegnung) oder durch die Enthüllung der Wahrnehmung (z. B. durch Erleuchtung des Geistes). Hauptinteresse dieses Ansatzes liegt nicht in der Information, sondern in der inneren Begegnung.
Das Problem: Wenn Offenbarung extern oder intern verstanden wird
Das Hauptproblem ist nicht die Unterscheidung, sondern der implizierte Gegensatz beider Grundverständnisse.
Mit der Aufklärung setzte der Zersetzungsprozess bestimmter christlicher Konzepte ein. Mit der Dominanz der menschlichen Vernunft kam ein neues Verständnis auf: Offenbarung wurde entweder objektiviert oder subjektiviert. Es wurde also nicht länger eine organische Einheit mit ihrer Quelle im trinitarischen Gott gesehen, sondern es entwickelte sich der scharfe Gegensatz beider Erkenntniswege [vgl. die geistesgeschichtlichen Stränge der Aufklärung und der Romantik].
Externe Offenbarung
John Locke und David Hume begannen, die Vernunft zu betonen, die auf menschliche Sinne zurückgreift. Gemäß diesem Modell ist der Sinn und die Natur des Menschen ein unbeschriebenes Blatt und wird daher durch äußere Quellen ‚beschrieben‘. Gemeinsam mit diesen empirischen Wissenschaftlern kam die Bibelkritik z. B. mit H. S. Reimarus auf, der die Offenbarung der Bibel allein auf der Basis des historischen bzw. externen Ergebnisses gedeutet hat. Auf die Spitze getrieben führte das bei christlichen Theologen wie z. B. Jean-Alphonse Turretin dahin, dass er annahm, jede Vernunft orientierte Person könne die Offenbarung Gottes auf der Grundlage der Vernunft erkennen, ohne Einwirkung des Geistes.
Evangelikale Vertreter: Carl F. H. Henry, Wayne Grudem, Millard Erickson, Robert Reymond, Norman Geisler, James Leo Garrett.
Interne Offenbarung
Dieses Verständnis zeigte sich schon bei den Sophisten in der Antike, wurde aber insbesondere durch G. E. Lessing und I. Kant prominent gemacht. Mit I. Kant und später F. Schleiermacher setzte ein innerlicher Zug in der Religion und damit in der Offenbarung ein. Die Erkenntnis Gottes wurde nun als eine erlösende Erfahrung im Individuum verstanden, bei F. Schleiermacher als „schlechthinnige [absolute, völlge] Abhängigkeit“, bei A. Ritschl als moralisches „Werturteil“. G. Hegel sah z. B. die wichtigste Offenbarung im Innenleben des Menschen. Offenbarung führt nicht zu neuem Wissen, sondern zu einem neuen inneren Bewusstsein. Die Anthropologie wurde zur Basis bzw. zum Boden (grounding) der Offenbarung. Evangelikale Theologen wie S. Grenz oder J. Franke folgten dieser Linie, indem sie annahmen, dass Offenbarung nicht in einem geschriebenen Text (Schrift), sondern in der Community zu finden sei. Offenbarung ist also nicht Wissen, sondern eine interne Erweckung der Gemeinschaft.
Die These dieser Dissertation
Eine Reihe von evangelikalen Theologen neigt dazu, gerade den externen Charakter der Offenbarung zu betonen. Damit begünstigen sie eine Einseitigkeit bzw. eine Dichotomie zwischen beiden Grundverständnissen der Offenbarung. Diese Dissertation beabsichtigt, die externe und interne Realität der Offenbarung zu würdigen und ihre Kohärenz hervorzuheben (Brandt 2015:1-12).
Fazit
Wer über die Wirklichkeit aus theologischer bzw. philosophischer Perspektive nachdenkt, wird häufig mit komplementären Sachverhalten konfrontiert (z. B. aus christlicher Perspektive ist der Mensch Ebenbild Gottes und Sünder). Nur das „Zusammen-Sehen“ beider Pole kann davor bewahren, in eine Einseitigkeit abzudriften. Was dies in Bezug auf die Offenbarung Gottes praktisch bedeutet, soll in einem zweiten Teil erörtert werden.
Fußnoten
Brandt, R. A. (2015). The Organic Unity of Revelation: Towards a Biblical, Historical, and Theological Understanding of the External and Internal Nature of Revelation [Dissertation]. Southern Baptist Theological Seminary, Louisville.
Rapp, C. (2002). Aristoteles’ Ethik. In M. Düwell, C. Hübenthal & M. H. Werner (Hg.), Handbuch Ethik. J. B. Metzler.