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„Wer ist Christus für uns heute?“

Rich Villodas

Rich Villodas, der auf Peter Scazzero folgende Pastor der New Life Fellowship, hat in seinem Vortrag auf die alte und berühmte Frage von Dietrich Bonhoeffer verwiesen:

Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist.

Brief an Eberhard Bethge (30.4.44) in Bonhoeffer, D. (2015) Widerstand und Ergebung: Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Sonderausgabe. Herausgegeben von C. Gremmels u. a. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus (Dietrich Bonhoeffer Werke), S. 402.

Es lohnt sich, den Vortrag von Rich Villodas zu hören. Denn auf diese Frage – die jede Generation für sich neu zu klären hat – stellt sich eine nächste: „Who are we to be for Christ today?“

Spiritual Formation for this Generation – Rich Villodas

Ich habe dann im Folgenden bei Bonhoeffer im Original nachgelesen. Und das, was dort zu lesen ist, bleibt aus meiner Sicht die wichtigste Frage der Kirche bzw. Gemeinde im 21. Jahrhundert. Bonhoeffer ist – wieder einmal – hier Prophet auch für unsere Zeit. Ich zitiere:

137. AN EBERHARD BETHGE – 30.4. 44

Lieber Eberhard!


Wie gut schiene es mir für uns beide, wenn wir diese Zeit zusammen durchleben und uns gegenseitig beistehen könnten. Aber [es] ist eben wohl „besser“, daß es nicht so ist, sondern daß jeder allein da hindurch muß. Es fällt mir schwer, Dir jetzt in garnichts helfen zu können – als darin, daß ich wirklich jeden Morgen und Abend und beim Lesen der Bibel und auch sonst noch oft am Tage an Dich denke. Um mich brauchst Du Dir bitte wirklich garkeine Sorgen zu machen; es geht mir unverhältnismäßig gut, und Du würdest Dich wundern, wenn Du mich besuchen kämest. Die Leute hier sagen mir immer wieder, – was mir, wie Du siehst, stark schmeichelt – daß von mir „eine solche Ruhe ausstrahle“ und daß ich „immer so heiter“ sei, – so daß meine gelegentlichen persönlichen gegenteiligen Erfahrungen mit mir selbst wohl auf einer Täuschung beruhen müssen (was ich aller- | dings durchaus nicht wirklich glaube!). Dich wundern oder vielleicht sogar Sorgen machen würden Dir höchstens meine theologischen Gedanken mit ihren Konsequenzen, und hierin fehlst Du mir nun wirklich sehr; denn ich wüßte nicht, mit wem ich sonst überhaupt so darüber sprechen könnte, daß es für mich eine Klärung bedeutet. Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist. Die Zeit, in der man das den Menschen durch Worte – seien es theologische oder fromme Worte – sagen könnte, ist vorüber; ebenso die Zeit der Innerlichkeit und des Gewissens, und d.h. eben die Zeit der Religion überhaupt. Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen; die Menschen können einfach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein. Auch diejenigen, die sich ehrlich als „religiös“ bezeichnen, praktizieren das in keiner Weise; sie meinen also vermutlich mit „religiös“ etwas ganz anderes. Unsere gesamte 1900 jährige christliche Verkündigung und Theologie aber baut auf dem „religiösen Apriori“ der Menschen auf. „Christentum“ ist immer eine Form (vielleicht die wahre Form) der „Religion“ gewesen. Wenn nun aber eines Tages deutlich wird, daß dieses „Apriori“ garnicht existiert, sondern daß es eine geschichtlich bedingte und vergängliche Ausdrucksform des Menschen gewesen ist, wenn also die Menschen wirklich radikal religionslos werden – und ich glaube, daß das mehr oder weniger bereits der Fall ist (woran liegt es z.B. daß dieser Krieg im Unterschied zu allen bisherigen eine „religiöse“ Reaktion nicht hervorruft?) – was bedeutet das dann für das „Christentum“? Unserem ganzen bisherigen „Christentum“ wird das Fundament entzogen, und es sind nur noch einige „letzte Ritter“ oder ein paar intellektuell Unredliche, bei denen wir „religiös“ landen können. Sollten das etwa die wenigen Auserwählten sein? Sollen wir uns eifernd, piquiert oder entrüstet ausgerechnet auf diese zweifelhafte Gruppe von Menschen stürzen, um unsere Ware bei ihnen abzusetzen? Sollen wir ein paar Unglückliche in ihrer schwachen Stunde überfallen und sie sozusagen religiös vergewaltigen? Wenn wir das alles nicht wollen, wenn wir schließlich auch die westliche Gestalt des Christentums nur als Vorstufe | einer völligen Religionslosigkeit beurteilen müßten, was für eine Situation entsteht dann für uns, für die Kirche? Wie kann Christus der Herr auch der Religionslosen werden? Gibt es religionslose Christen? Wenn die Religion nur ein Gewand des Christentums ist – und auch dieses Gewand hat zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden ausgesehen – was ist dann ein religionsloses Christentum? Barth, der als einziger in dieser Richtung zu denken angefangen hat, hat diese Gedanken dann doch nicht durchgeführt und durchdacht, sondern ist zu einem Offenbarungspositivismus gekommen, der letzten Endes doch im Wesentlichen Restauration geblieben ist. Für den religionslosen Arbeiter oder Menschen überhaupt ist hier nichts Entscheidendes gewonnen. Die zu beantwortenden Fragen wären doch: was bedeutet eine Kirche, eine Gemeinde, eine Predigt, eine Liturgie, ein christliches Leben in einer religionslosen Welt? Wie sprechen wir von Gott – ohne Religion, d.h. eben ohne die zeitbedingten Voraussetzungen der Metaphysik, der Innerlichkeit etc. etc.? Wie sprechen (oder vielleicht kann man eben nicht einmal mehr davon „sprechen“ wie bisher) wir „weltlich“ von „Gott“, wie sind wir „religionslos–weltlich“ Christen, wie sind wir ἐκ–κλησία, Herausgerufene, ohne uns religiös als Bevorzugte zu verstehen, sondern vielmehr als ganz zur Welt Gehörige? Christus ist dann nicht mehr Gegenstand der Religion, sondern etwas ganz anderes, wirklich Herr der Welt. Aber was heißt das? Was bedeutet in der Religionslosigkeit der Kultus und das Gebet? Bekommt hier die Arkandisziplin, bzw. die Unterscheidung (die Du ja bei mir schon kennst) von Vorletztem und Letztem neue Wichtigkeit?
Ich muß heute abbrechen, da der Brief gerade mit weg kann. In zwei Tagen schreibe ich Dir weiter darüber. Hoffentlich verstehst Du ungefähr, was ich meine, und langweilt es Dich nicht. Leb einstweilen wohl! Es ist nicht leicht, immer echolos zu schreiben; Du mußt entschuldigen, wenn es dadurch etwas monologisch wird! Ich mache Dir aus Deinem Nichtschreiben wirklich keinen Vorwurf! Du hast zuviel anderes!

In Treue denkt sehr an Dich – Dein Dietrich |

Ich kann doch noch etwas weiterschreiben. – Die paulinische Frage, ob die περιτομή Bedingung der Rechtfertigung sei, heißt m.E. heute, ob Religion Bedingung des Heils sei. Die Freiheit von der περιτομή ist auch die Freiheit von der Religion. Oft frage ich mich, warum mich ein „christlicher Instinkt“ häufig mehr zu den Religionslosen als zu den Religiösen zieht, und zwar durchaus nicht in der Absicht der Missionierung, sondern ich möchte fast sagen „brüderlich“. Während ich mich den Religiösen gegenüber oft scheue, den Namen Gottes zu nennen, – weil er mir hier irgendwie falsch zu klingen scheint und ich mir selbst etwas unehrlich vorkomme, (besonders schlimm ist es, wenn die anderen in religiöser Terminologie zu reden anfangen, dann verstumme ich fast völlig, und es wird mir irgendwie schwül und unbehaglich) – kann ich den Religionslosen gegenüber gelegentlich ganz ruhig und wie selbstverständlich Gott nennen. Die Religiösen sprechen von Gott, wenn menschliche Erkenntnis (manchmal schon aus Denkfaulheit) zu Ende ist oder wenn menschliche Kräfte versagen – es ist eigentlich immer der deus ex machina, den sie aufmarschieren lassen, entweder zur Scheinlösung unlösbarer Probleme oder als Kraft bei menschlichem Versagen, immer also in Ausnutzung menschlicher Schwäche bzw. an den menschlichen Grenzen; das hält zwangsläufig immer nur solange vor, bis die Menschen aus eigener Kraft die Grenzen etwas weiter hinausschieben und Gott als deus ex machina [der Gott aus der Maschine] überflüssig wird; das Reden von den menschlichen Grenzen ist mir überhaupt fragwürdig geworden (ist selbst der Tod heute, da die Menschen ihn kaum noch fürchten, und die Sünde, die die Menschen kaum noch begreifen, noch eine echte Grenze?), es scheint mir immer, wir wollten dadurch nur ängstlich Raum aussparen für Gott; – ich möchte von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen sprechen. An den Grenzen scheint es mir besser, zu schweigen und das Unlösbare ungelöst zu lassen. Der Auferstehungsglaube ist nicht die „Lösung“ des Todesproblems. | Das „Jenseits“ Gottes ist nicht das Jenseits unseres Erkenntnisvermögens! Die erkenntnistheoretische Transzendenz hat mit der Transzendenz Gottes nichts zu tun. Gott ist mitten in unserm Leben jenseitig. Die Kirche steht nicht dort, wo das menschliche Vermögen versagt, an den Grenzen, sondern mitten im Dorf. So ist es alttestamentlich, und in diesem Sinne lesen wir das N.T. noch viel zu wenig vom Alten her. Wie dieses religionslose Christentum aussieht, welche Gestalt es annimmt, darüber denke ich nun viel nach und ich schreibe Dir bald darüber mehr. Vielleicht wird hier gerade uns in der Mitte zwischen Osten und Westen eine wichtige Aufgabe zufallen. Jetzt muß ich wirklich schließen. Wie schön wäre es, einmal ein Wort von Dir zu all dem [zu] hören. Es würde für mich wirklich sehr viel bedeuten, mehr als Du vermutlich ermessen kannst! – Lies übrigens gelegentlich Sprüche 22,11.12.29 Hier ist der Riegel gegen jede fromm getarnte Flucht.
Alles, alles Gute! Von Herzen Dein Dietrich

Quelle: Bonhoeffer, D. (2015) Widerstand und Ergebung: Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Sonderausgabe. Hg. v. C. Gremmels u. a. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus (Dietrich Bonhoeffer Werke), S. 401–408.

Wer ist Christus für uns heute?

Mir gefällt diese Frage Bonhoeffers, weil sie zentral ist. Die Theologie – das ist die Zunft, die ich betreibe – ist häufig dem Vorwurf der staubtrockenen, abgehobenen, zerfaserten und realitätsfernen Blase ausgesetzt. Und das stimmt zum Teil. Aber wer ein solches Urteil fällt, den möchte ich auf den Kern aller Theologie verweisen. Und das ist die zentrale Frage: „Wer ist Christus für uns heute?“

Mir gefällt diese Frage Bonhoeffers, weil sie universal ist. Das ist keine Frage der Frommen allein. Nein, Menschen, die ein Mehr in diesem Leben erahnen, sich wünschen und sich danach ausstrecken, können diese Frage genauso stellen wie Menschen, die sich selbst als Insider des christlichen Glaubens sehen würden.

Mir gefällt diese Frage Bonhoeffers, weil er sie im Plural stellt. Das ist eine Frage für die Gemeinschaft, für das Gespräch und den Austausch. Das „uns“ ist gemeinsames Ringen, Fragen und Antworten finden (Ja, entgegen dem postmodernen Mindset – wirkliche Antworten). Ich führe diese Frage ad absurdum, wenn ich sie allein nur für mich und mein kleines Leben stelle. Auf diese Frage kann man zwar nur individuell reagieren, aber sie ist nicht individualistisch zu beantworten.

Wer sollen wir heute für Christus sein?

Die zweite Frage ist die Antwort des Glaubens auf die erste Frage. Dabei meine ich nicht, dass das als Schritt eins und danach Schritt zwei gemeint sein kann. Es ist letztlich ein abwechselnder Dialog zwischen diesen zwei Fragen. Beide ergänzen sich. Damit entsteht eine Bewegung: Indem Christus unsere Mitte und nicht nur Randgrenze des Unlösbaren und Unheilbaren wird, ordnet sich unsere Identität und Bestimmung in der Welt.

We can either be in the world for God or in God for the world.

M. Robert Muholland
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