Otto Rodenberg über intellektuelle Redlichkeit, Theologie und Gebet

„An dieser Stelle ist ein persönliches Wort unumgänglich. Zwar ist, soweit ich sehe, in theologischen Untersuchungen das persönliche Zeugnis nicht üblich. Es mag auch in der Regel indirekt aus der Art, in der Theologie getrieben wird, aus der Art, in der insonderheit mit dem Andersdenkenden umgegangen wird, und überhaupt aus dem inneren Engagement des Theologen erschlossen werden. Indessen wird wohl kaum einmal ein theologisches Gespräch über derartige Fragen, wie wir sie untersuchen, ohne persönliches Zeugnis auskommen können. Und was im mündlichen Gespräch zu geschehen hat und geschieht, dafür sollte auch das schriftliche Wort zur Verfügung stehen.
Mir ist der intellektuelle Zweifel an dem Dogma der Jungfrauengeburt wohl bekannt. Ich kam aus dem letzten Krieg, vollgepackt mit Zweifeln an allem, was der Verstand überhaupt nur bezweifeln kann, darunter gar manches, was anderen leichter und unangefochtener zu glauben möglich erscheint. Insbesondere aber über das Dogma der Jungfrauengeburt fühlte ich mich hoch erhaben. Hier ‚muß doch entmythologisiert werden‘, das war meine Überzeugung. Ich gehörte also nicht irgendwann einmal zu der anderen eingangs genannten, orthodoxen Richtung, in der der Glaube an die Jungfrauengeburt gefordert wird. Ich gehöre auch heute nicht dahin, wo solcher Glaube gefordert wird, obwohl ich mit Freude und in Anbetung sagen und glauben darf ‚et incarnatus est de spiritu sancto ex Maria virgine et homo factus est ….‘
Bei meinem intellektuellen Zweifel habe ich, ganz schlicht gesagt, übersehen, was 1. Kor. 1 und 2 steht. ‚Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geiste Gottes. Es ist ihm eine Torheit und er kann es nicht erkennen.‘ Ich habe allerdings nicht geahnt und mich auch lange gegen die Erkennmis gewehrt, welch eine Folge diese meine kritische Meisterung der Geheimnisse Gottes für mein Leben und meinen Dienst hatte. Beide, Leben und Dienst, standen unter einer inneren Unruhe, die ich heute in engem Zusammenhang sehe zu jener kritischen Meisterung der Geheimnisse Gottes kraft eigenen Denkens. Das eigene Tun, das eigene Denken und Erkennen, das eigene Wollen waren bestimmend. Darin war ich, ohne es zu wissen, vom Feind gesteuert. Ich hielt mein Denken für autonom gerade dort, wo ich es ablehnte, die Dogmen der Kirche als verbindlich anzusehen. Das war für mich eine Forderung der Intellektuellen Redlichkeit, gestellt vom Verstand, der seine eigene Kompetenz für ausreichend hielt und deshalb nicht darauf kam, sich zunächst gebeugt und anbetend dem anzuvertrauen, der ihn gegeben hat. Darin lagen zwei Selbsttäuschungen vor: Zunächst sah ich nicht, daß es gar keine Autonomie gibt. Wo das Bekenntnis als angeblich ungeeignete Fessel für freie Forschung beiseitegeschoben wird, wird nur zu leicht auch der beiseitegeschoben, den das Bekenntnis meint, und ohne den auch der Theologe nichts tun kann. Autonomie ist aber dann eine Illusion. Luther wußte das und kannte nur entweder die vom Teufel besessene oder die vom Heiligen Geist erleuchtete Vernunft.
Sodann hielt ich die vermeintlich voraussetzungslose intellektuelle Redlichkeit für eine selbstverständliche, befreiende Verpflichtung, und zwar weil ich als Alternative lediglich intellektuelle Unredlichkeit für möglich hielt. Diese kam natürlich nicht in Frage (und soll auch heute niemandem zugemutet werden!). Daß es außer dieser undiskutablen Alternative jedoch noch eine andere Alternative gibt, nämlich die Wahrheit, die frei macht (Joh. 8, 31 ff.; 2. Kor. 4, 3 ff.), daß diese Wahrheit nicht einfach identisch ist mit intellektueller Redlichkeit, sondern sogar zu ihr in Spannung steht, insofern geistliche und natürliche Erkenntnis in Spannung stehen, das sah ich nicht, und konnte es auch nicht sehen. Es war ein Stück Unerlöstheit, Gefangenschaft auch des Intellektes, gerade dort, wo ich frei zu sein meinte.
Als mir diese Zusammenhänge deutlich wurden, habe ich zunächst, noch ohne zu wissen, welche Folgen sich ergeben würden, einfach im Gehorsam gegenüber dem, was 1. Kor. und 2 gesagt ist, dieser meiner kritischen Meisterung der Geheimnisse Gottes abgesagt. Vom eigenen Denken ausgehende Theologie ist nicht nur falsch, sie ist Sünde. Sünde aber muß vergeben werden, und es ist Scheidung von erkannter Sünde nötig. Darauf liegt Gottes Segen. Darüber stehen Gottes Verheißungen.
Und was ich zuvor nicht wußte, geschah als Folge: Die Anbetung der Geheimnisse Gottes erschloß sich als eine Quelle der Kraft und der Ruhe und Gelassenheit, gerade in die Gebiete hinein, die leicht außerhalb der Sichtweite theologischer Arbeit bleiben: in das unerlöste Wollen, Rennen und Laufen des natürlichen Menschen, der sich zerarbeitet in der Menge seiner Wege. Welch befreiende Kraft liegt in der Anbetung: Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Diese Dimension ist nicht eine irgendwann vielleicht hinzuzuziehende, sie ist konstitutiv für theologische Arbeit, Theologie ist vom Ansatz her Gebet.


Quelle: Rodenberg O 1963. Der Sohn: Beiträge zum theologischen Gespräch der Gegenwart. Wuppertal: R. Brockhaus. S. 49-50.

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