Jesus als Lehrer

Jesus als Lehrer – das ist in der christlichen Pädagogik (christian education) ein beliebter Titel. Google weist 22.600 Treffer aus.
Aber der Titel Jesus als Lehrer ist auch ein Stück neutestamentlicher Forschungsgeschichte. Im Jahr 1980/81 wurde Rainer Riesner mit diesem Thema an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Tübingen promoviert. Mehr als 40 Jahre später hat er nun die 4. Auflage dieses monumentalen Werks vorgelegt. Dabei hat er die Diskussion um die Third Quest for Jesus, die neuere sozialgeschichtliche Erkenntnisse über Judäa und Galiläa und die Texte aus Qumran eingearbeitet.
40 Jahre Forschungsgeschichte
Rainer Riesner war 15 Jahre Professor für Neues Testament am Institut für Evangelische Theologie an der Universität Dortmund. Seit 2013 ist er Professor im Ruhestand.
In diesem Beitrag rezensiere ich seine 1981 erschienene, 1983 und 1988 in weiteren Auflagen veröffentlichte Dissertation, die nun 2023 in einem Umfang von 864 Seiten vorliegt.
Riesner 2023 – Jesus als Lehrer
Die Monografie hat einen überzeugenden und klaren Aufbau:
- Kapitel 1: Die Jesus-Überlieferung
- Kapitel 2: Die Frühjüdische Volksbildung
- Kapitel 3: Die Lehrautorität Jesu
- Kapitel 4: Die Öffentliche Lehre
- Kapitel 5: Die Jüngerlehre
Entgegen der 3. Aufl. (1988) wird das ca. 20seitige Nachwort in den Haupttext eingearbeitet. Die Zusammenfassung am Schluss bleibt mit ca. vier Seiten überschaubar. Ein Inhaltsverzeichnis und eine Leseprobe hat der Mohr Siebeck hier bereitgestellt.
1. Die Jesus-Überlieferung
Jesus interessiert, auch im 21. Jh. Auch die viel gescholtene Gen Z bleibt interessiert (77% der Jugendlichen sind motiviert, mehr von Jesus zu erfahren). Die entscheidende Frage ist: Wie tragfähig sind die Quellen? (:1).
Die synoptische Frage
Auch wenn es lange so schien, überzeugen einfache Lösungen (Zwei-Quellen-Theorie, Q-Hypothese usw.) überzeugen nicht (:4–9).
„The scholarly community of New Testament experts has cut itself very badly with Occam’s Razor.“
John C. O’Neill bei Riesner 2023:9
Vorzuziehen sind komplexere Erklärungsansätze, die Einbeziehung des mündlichen Faktors und das Rechnen mit einem mehrstufigem Prozess (:10f). Es ist von einem breiten Traditionsstrom auszugehen und den Einfluss von Nebentraditionen (:12).
Von der ‚klassischen‘ Formgeschichte zum ‚Erinnerten Jesus‘
Die klassische Formgeschichte von Martin Dibelius und Rudolf Bultmann hat trotz vielfältiger und berechtigter Kritik im Verlauf des 20. und 21. Jh. Zähigkeit und Überlebenswillen bewiesen (:16–18). Riesner macht sich die Mühe und problematisiert bekannte Thesen der Formgeschichte:
- Propheten-Hypothese – Urchristliche Prophetensprüche wurden im großem Ausmaß nachträglich als Worte des irdischen Jesus angesehen und übernommen (:18–21).
- Kollektivistisches Literaturverständnis – Die Evangelien seien wie andere antike Werke Produkte gemeinschaftlicher Volksdichtung, in denen individuelle Zeugen keine Rolle spielten (:22–24).
- Zeitlose Überlieferungsgesetze – Die Überlieferung sei strikten, deterministischen Gesetzen gefolgt und habe dadurch spezifische ‚Formen‘ hervorgebracht (:24–26).
- „Reine Formen“ – Viele Urteile über die Unechtheit der Überlieferung postulierten eine Abweichung von einer ursprünglichen ‚reinen Form‘ (:26–28).
Die ‚klassische‘ Formgeschichte hat die Bedeutung der mündlichen Überlieferung und die Existenz der Evangelientradition innerhalb christlicher Gemeinden betont (:28f). Zeitgleich hat sie aber durch gewisse Annahmen und kollektivistischen Konstrukte den Überlieferungsprozess überfrachtet und konnte auch in der Detail-Analyse nicht überzeugen (:29).
Was aber bewirkte die Third Quest of Jesus? Bezeichnend war für diese Phase der Frage nach Jesus (N. T. Wright, 1988) „1) der Verzicht auf christologische Deutungsmuster, 2) den Bezug zur Sozialgeschichte, 3) das Ernstnehmen des jüdischen Kontextes und 4) die Berücksichtigung außerkanonischer Überlieferungen“ (Winter bei :30).
Einigen fruchtbaren Jesus-Darstellungen folgte dann der Trend hin zur Bedeutung des „sozialen Gedächtnisses“. Dieses Konzept des social memory geht davon aus, dass individuelle Erinnerungen „auch immer stark von den Vorstellungen der erinnernden Gemeinschaft geprägt“ sind (:32). Die Tragfähigkeit von Erinnerungen wird auch in der modernen Gedächtnisforschung unterschiedlich (pessimistisch vs. optimistisch) bewertet (:32f). Auch hier ist die Forschung nicht zu einem Konsens gekommen: Sie schwankt zwischen Zuversicht und Skepsis des kollektiven Gedächtnisses (:33f).
Der Weg der Überlieferung
Riesner setzt bei der „Zuverlässigkeit der vorsynoptischen Jesus-Überlieferungen“ bei den synoptischen Evangelien an. Eine andere Möglichkeit stellt sich nicht. Wie historisch verlässlich sind die synoptischen Evangelien? Wieviel Zugang hatten ihre Verfasser zu Traditionen von Augen- und Ohrenzeugen? Wie bewahrend wollten die Evangelisten schreiben?
„Nur wenn man in beiden Fällen eine positive Antwort geben kann, ist es sinnvoll, die weitergehende Frage nach der historischen Tragfähigkeit der vorsynoptischen Traditionen zu stellen.“
Riesner 2023:37
Riesner möchte bewusst historische Annahmen offen legen, wenn der „das Bild von der Entstehung, Entwicklung und Gestalt der urchristlichen Bewegung im 1. Jahrhundert“ untersucht (:37). Dieser Grundfrage nähert sich mit äußerster Akribie und Gründlichkeit. Daher bearbeitet er zunächst acht grundsätzliche Aspekte, bevor ein „Versuch einer Synthese: Von Jesus zu den synoptischen Evangelien“ (:127-138) nachgezeichnet wird.
Synthese: Von Jesus zu den synoptischen Evangelien
:127ff
2. Die Frühjüdische Volksbildung
3. Die Lehrautorität Jesu
4. Die Öffentliche Lehre
5. Die Jüngerlehre
Würdigung
Das Buch „Jesus als Lehrer“ von Rainer Riesner ist ein Klassiker der neutestamentlichen Forschung, der 2023 in der vierten Auflage erschienen ist. Der Autor ist Professor für Neues Testament an der Universität Dortmund und ein international anerkannter Experte für die historische Jesusforschung. In diesem Buch untersucht er die Rolle Jesu als Lehrer im Kontext des antiken Judentums und der hellenistischen Welt. Er zeigt, wie Jesus die Traditionen der Schriftgelehrten, Propheten und Weisheitslehrer aufgriff, veränderte und erweiterte, um seine Botschaft vom Reich Gottes zu verkünden. Dabei geht er auch auf die Fragen ein, wie Jesus seine Jünger auswählte, ausbildete und beauftragte, wie er mit seinen Gegnern umging und wie er seine Lehre durch Zeichen und Wunder bestätigte.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Der erste Teil behandelt die Voraussetzungen und Grundlagen der Lehrtätigkeit Jesu, der zweite Teil analysiert die Inhalte und Methoden seiner Lehre und der dritte Teil beschreibt die Wirkungen und Folgen seiner Lehre für seine Nachfolger. Jeder Teil besteht aus mehreren Kapiteln, die jeweils einen Aspekt der Lehre Jesu beleuchten. Am Ende jedes Kapitels gibt es einen kurzen Abschnitt mit Anmerkungen, Literaturhinweisen und weiterführenden Fragen. Das Buch ist somit sowohl für wissenschaftliche als auch für interessierte Laien geeignet, die sich vertieft mit dem Thema beschäftigen wollen.
Das Buch besticht durch seine klare Sprache, seine fundierte Argumentation und seine breite Kenntnis der einschlägigen Quellen und Forschungsliteratur. Der Autor versteht es, die historischen, kulturellen und religiösen Hintergründe der Lehre Jesu anschaulich darzustellen und ihre Bedeutung für die Gegenwart herauszuarbeiten. Er bietet keine einfache Wiederholung dessen, was schon bekannt ist, sondern stellt neue Thesen und Perspektiven vor, die zum Nachdenken und zur Diskussion anregen. Er respektiert sowohl die Eigenart Jesu als auch die Vielfalt seiner Rezeption in den Evangelien und in der Kirchengeschichte. Er vermeidet es, Jesus in eine bestimmte theologische oder ideologische Schublade zu stecken, sondern lässt ihn als den sprechen, der er war: ein Lehrer, der die Welt veränderte.
Die wichtigsten Thesen des Buches sind:
- Jesus war kein isolierter Einzelgänger, sondern stand in einer lebendigen Beziehung zu den religiösen Strömungen seiner Zeit. Er kannte und schätzte die Schriften des Alten Testaments, die Apokryphen, die Pseudepigraphen und die Qumran-Schriften. Er war vertraut mit den Lehren der Pharisäer, Sadduzäer, Essener und Zeloten. Er pflegte Kontakte zu den Heiden und Samaritern. Er war offen für die Einflüsse der griechischen Kultur und Philosophie.
- Jesus war kein dogmatischer Lehrer, sondern ein kreativer Interpret. Er nutzte verschiedene Formen der Rede, wie Gleichnisse, Sprichwörter, Antithesen, Paradoxien und Ironien. Er verwendete verschiedene Methoden der Argumentation, wie Analogien, Fragen, Zitate und Überbietungen. Er bezog sich nicht nur auf die Buchstaben des Gesetzes, sondern auf den Geist und das Ziel des Gesetzes. Er legte nicht nur Wert auf das Wissen um Gott, sondern auf die Liebe zu Gott.
- Jesus war kein autoritärer Lehrer, sondern ein dienender Leiter. Er suchte nicht nach Anhängern, sondern nach Freunden. Er forderte nicht nur Gehorsam, sondern auch Vertrauen. Er lehrte nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten. Er gab nicht nur Anweisungen, sondern auch Beispiele. Er bot nicht nur Informationen, sondern auch Inspiration.
Dieses Buch sollte von allen gelesen werden, die mehr über Jesus als Lehrer erfahren wollen. Es richtet sich an Studierende der Theologie und Religionswissenschaften, an Pfarrerinnen und Pfarrer sowie an alle Christinnen und Christen, die ihr Verständnis von Jesus vertiefen wollen. Es ist auch für Menschen anderer Glaubensrichtungen oder ohne religiöse Bindung interessant, die sich für die historische Person Jesu und seine Bedeutung für die Weltgeschichte interessieren. Es ist ein Buch, das zum Lernen, zum Nachdenken und zum Nachfolgen einlädt.
Quellen
1 Drews.