Die Fußwaschung Jesu neu untersucht

Die Szene über die Fußwaschung Jesu gehört zu den „rätselhaftesten“ Texten des Neuen Testaments. Die neutestamentliche Forschung ist sich bei der Deutung dieser Erzählung uneinig. Anni Hentschel unterscheidet acht unterschiedliche Zugänge zu diesem Text im Johannesevangelium 13,1-20 und diskutiert 32 Entwürfe in ihrer Habilitationsschrift.
Die Fußwaschung Jesu neu untersucht
Die johanneische Erzählung in Joh 13,1-20 zeigt eine große Bedeutungsoffenheit. Erhellend ist, dass die vielen Deutungen durch die Vorannahmen einzelner Forscher und Forscherinnen gravierend geprägt werden (Hentschel 2022:72f). Welche kulturelle Bedeutung hatten Fußwaschungen in der Antike? Von wem wurden sie vollzogen? Und wie ist die Handlung Jesu mit den theologischen Grundlinien des Evangeliums zu verbinden? Welche Rolle spielt die Entstehungsgeschichte der Erzählung bei der Auslegung? All das sind Annahmen, die entscheidend die verschiedenen Interpretationstypen hervorgebracht haben. Folgende Bedeutungen sind in der Forschung diskutiert worden (siehe die Übersicht bei Thomas 1991:11-17; Hentschel 2022:73):
- Fußwaschung und Demut
- Fußwaschung und Abendmahl
- Fußwaschung und Taufe
- Fußwaschung und Sündenvergebung / Reinigung
- Fußwaschung als eigenes Sakrament neben Taufe und Abendmahl
- Fußwaschung und soteriologisches Zeichen
- Fußwaschung und Polemik (gegen Taufe oder rituelle Waschungen)
- Fußwaschung und Liebe
- Fußwaschung und Vorbereitung (auf den Abschied Jesu)
- Fußwaschung und Beauftragung (für die Zeit nach Jesu Abschied)
- Fußwaschung und Gemeindegründung
Anni Hentschel ist Professorin für Neues Testament und Diakoniewissenschaft an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Sie ist Expertin für die Semantik des griechischen Begriffs diakonia und forscht über biblische Begründungszusammenhängen und theologische Deutungen sozialer und ethischer Fragestellungen.
In diesem Beitrag rezensiere ich ihre Habilitationsschrift. Sie wurde an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main habilitiert.
Hentschel 2022 – Die Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium
Die Monografie hat einen überzeugenden und klaren Aufbau.
Hentschel stellt zunächst die Fülle der Deutungsbeispiele seit dem 19. Jh. dar (Kap. 1). Danach gibt sie Rechenschaft über ihre eigene Vorgehensweise (Kap. 2). Es folgt die Fußwaschung in der Antike als mögliches kulturelles Setting (Kap. 3). Die Perikope der Fußwaschung (Joh 13,1-20; Kap. 5) sieht die Verfasserin umrahmt von Marias Salbung der Füße Jesu (Joh 12,1-11; Kap. 4) und der Weinstockperikope (Joh 15,1-17; Kap. 6). In Kapitel 7 werden alle Ergebnisse transparent und nachvollziehbar zusammengefasst.
1. Forschungsgeschichtliche Perspektiven
Hentschel erkennt sieben verschiedene Interpretationszugänge in der Forschung. Dabei beeinflussen der methodische Zugang sowie die Annahmen in Bezug auf die Einleitungsfragen wesentlich die Auslegung (Hentschel 2022:3). Sie stellt exemplarisch 32 Interpretationsweisen von Forschern und Forscherinnen seit dem 19. Jh. dar. Alle sieben Zugänge werden im Einzelnen von Hentschel gewürdigt und um ihre Schwächen entlarvt. Gerade beim narratologisch orientierten Zugang kann sei eine besondere Eignung feststellen, „Hinweise im Text wahrzunehmen, die ein verkürztes oder auch ein bereits traditionell gewordenes Textverständnis erweitern und ggf. in Frage stellen können“ (:72).
Forschungsgeschichtlich wurde insbesondere Joh 13,6-11 christologisch oder soteriologisch ausgelegt. Textkritisch und unsicher bleibt die Bedeutung von Joh 13,10. Und auch wenn Joh 13,12-20 eine Nachahmung durch die Jünger impliziert, bleibt unklar, was denn die Jünger genau nachahmen sollen. Und ist die Handlung Jesu eine Fortsetzung der Handlung der Jünger oder sind hier zwei Handlungen unterschiedlicher Qualität bzw. Intention im Blick?
Hentschel gehe es in ihrer Arbeit darum, „wie die Fußwaschungserzählung durch ihre spezifische Einbettung und Gestaltung im Johannesevangelium verstanden werden kann“, wobei sie konsequent vom Endtext ausgehen möchte (:76). Der Gang durch die Forschung bestätige diese methodische Entscheidung, weil hier „wohl gelungene Interpretationsmodelle“ vorliegen.
Warum braucht es eine weitere Monografie zur Fußwaschung Jesu?
Zum einen möchte Hentschel mittels der kulturellen Bezüge das Bedeutungsspektrum der Fußwaschung noch gründlicher als bisher beleuchten, die intertextuell relevanten synoptischen Texte einbeziehen und den bisher zahlreichen Deutungen „eine weitere hinzufügen, welche einen neuen, hoffentlich ebenso spannenden wie weiterführenden Diskussionsbeitrag zur Ekklesiologie des Johannesevangeliums darstellt“ (:1f).
2. Zur Vorgehensweise
Die Interpretation der Fußwaschung sieht Hentschel durch folgende Faktoren beeinflusst (:79, :369):
- Die kulturelle Bedeutung von Fußwaschungen
- Die Entstehungsgeschichte des Johannesevangeliums als Text
- Das Verhältnis des vierten Evangeliums zu den Synoptikern
- Die Wahl des methodischen Zugangs
- Die Beurteilung der Theologie des Johannesevangeliums (besonders Christologie, Ekklesiologie und Ethik).
In ihrer Monografie sucht sie die Bedeutung der Fußwaschung „primär im Text des Johannesevangeliums“ (:87). Konkret interpretiert sie Joh 1–21, nimmt für Joh 13,10 den „Kurztext als wahrscheinlich ältere Textfassung“ (:88) an und fragt im zweiten Schritt nach den intertextuellen Bezügen zu den Synoptikern. Dabei gehe es aber weniger um additive Informationen, sondern um Leser, die sich der Eigenständigkeit des vierten Evangeliums bewusst sind und diese intertextuellen Bezüge konstruieren (:88f).
Methodisch greift Hentschel den von Hartwig Thyen favorisierten intertextuellen und rezeptionsästhetischen Zugang auf und führt diesen fort (:90–122). Sie folgt der Hypothese, Johannes habe die anderen Evangelien gekannt und er habe in seinem Werk intertextuelle Bezüge gesetzt (:95). Ihre Methodologie gründet sie auf dem text-theoretischen Modell von Umberto Eco (:100–106) und der narratologischen Analysemodell von Mieke Bal (:106–122).
3. Fußwaschung in der Antike
Welche außersprachliche Wirklichkeit Joh 13 impliziert, ist entscheidend für die Interpretation der Fußwaschung Jesu. Hentschel sucht nach zentralen Bedeutungsaspekten der Fußwaschung als alltägliche kulturelle Praxis. Dabei gehe es ihr um zentrale Belege antiker Praxis, nicht ein Zusammentragen aller Belege auf quantitativer Ebene (:126).1 Bisherige Studien zu Joh 13 kranken daran, dass sie die vielfältigen Bedeutungsmöglichkeiten nur unzureichend in ihre Interpretation aufnehmen (:127).
Hentschel arbeitet drei grundlegende Bedeutungsfelder heraus.
Fußwaschung als Körperpflege
Das Waschen der eigenen Füße war – wie heute das Zähneputzen – eine Selbstverständlichkeit. Sie diente der Reinigung und/ oder zur Vorbereitung weiterer Handlungen (z. B. dem Zu-Bett-Gehen). Daher verwundert es nicht, dass eine solche kulturelle Sitte und Banalität verhältnismäßig wenig in den Quellen thematisiert wird (:131f).
Fußwaschung als Zeichen von Ehre und Liebe in unterschiedlichen Settings menschlicher Interaktion
Das Waschen der Füße zwischen Menschen wird als Erweis von Ehre gesehen. Daher gehört es sich für Kinder im Allgemeinen, den Eltern die Füße zu waschen (im jüdischen Kontext als sichtbare Handlung des vierten Gebots; :134f). Sie kann auch von anderen Angehörigen ausgeführt werden, und dies als ‚Zeichen von Wertschätzung und Liebe“ (:138). Dabei gebe es unterschiedliche Anlässe, z. B. beim Eintreten ins Haus, als feierliche Form der Aufwartung bei Mahlzeiten usw.
Aufgrund sexueller Konnotationen wird das Waschen der Füße in der rabbinischen Literatur der Ehefrau vor der Magd vorbehalten. Es ist ihre exklusive Pflicht gegenüber ihrem Mann (:139–142). Das zeigt insbesondere der Roman Josef und Aseneth, wonach das Waschen der Füße „ein Zeichen der intimen Liebe zwischen Mann und Frau“ symbolisiert (:142–145). Auch in griechischer und römischer Literatur wird die Handlung „als intime Berührung“ gewertet, „die sowohl durch die Ehefrau als auch durch Sklavinnen erfolgen kann“ (:149). Frauen haben diese Handlung ihren Mägden gerade nicht delegiert, sondern dies als intime Nähe zu ihrem Mann vor dem Zubettgehen vollzogen.
Schüler erbringen ihrem Lehrer die Dienstleistung der Fußwaschung („den Schuh lösen“ – wohl als Waschen und Salben gemeint, bKet 96a; :150f). Es ist offensichtlich so, dass die Fußwaschung zum kulturellen Standard von Gastfreundschaft gehörte, sie aber z. B. in den Epen Homers literarisch kaum explizit hervorgehoben wird (hier kommt Hentschel zu einem deutlich vorsichtigeren Urteil, als es in der Forschung zu Homer üblich ist, :152-154). Es ist eine „selbstverständliche Geste“, wobei in den wenigen literarischen Erwähnungen auch die Subjekte der Handlung „nicht einmal eindeutig oder explizit benannt“ werden (:164f).
„Eine aufwändig oder sogar persönlich vom Gastgeber bzw. der Gastgeberin durchgeführte Fußwaschung oder Aufwartung sagt also immer etwas über die Beziehung zu den Gästen aus. (…) Die Texte legen nicht nahe, dass die Fußwaschung für den Gastgeber mit einer Erniedrigung oder einem Statusverzicht verbunden ist.“
Hentschel 2022:165
In Bezug auf Hauptbezugstext Hom.Od. 9 argumentiert Hentschel gegen den Mainstream, der hier die Fußwaschung als Sklavendienst interpretiert. Es gehe dort vielmehr um einen besonderen Ehrerweis, der mit „körperlicher Berührung, mit Intimität, Vertrauen und emotionaler Nähe“. Und es handelt sich um eine „Fußwaschung vor dem Schlafengehen und nicht um eine Fußwaschung vor einem Gastmahl“ (:160).
Fußwaschung als Zeichen der Ehre
Neben der Bedeutung der alltäglichen Handlung kann eine Fußwaschung auch als Zeichen der Ehrerbietung in gesellschaftlichen Kontexten erscheinen (:171). Auch dabei ist – wenn ein freier Mann einem anderen die Füße wäscht – nicht prinzipiell von einem Statusverlust für den Handelnden auszugehen (:171). Wird jedoch eine Fußwaschung erzwungen, geschieht aufgrund dieser kultureller Konnotationen „eine besondere Erniedrigung und Demütigung“ (:172).
Erhellend ist die Differenzierung, die Hentschel über das jüdische Sklavenverständnis herausarbeitet: „In der alttestamentlichen Rechtsprechung wird zwischen hebräischen und ausländischen Sklaven unterschieden“ (179). Demzufolge verbietet Rabbi Jischmael in der Auslegung zu Ex 21,1–3 das Waschen der Füße und einige andere (Sklaven-)Tätigkeiten beim öffentlichen Besuch des Badhauses (MekhJ; :182). Während ein Sohn oder ein Schüler ausdrücklich dies ausführen darf, darf es ein hebräischer Sklave nicht. Offensichtlich werden damit das öffentliche Machtgefälle bzw. eine mögliche sexuelle Verfügbarkeit des Sklaven gegenüber seinem Herrn eingeschränkt (:183).
Was hat Hentschel mit dieser Durchsicht ausgewählter Quellen gewonnen? Die Autorin beobachtet, dass die Fußwaschung alltäglich war, von Sklaven und Sklavinnen verrichtet wurde, aber nicht per sé mit einem Sklavendienst konnotiert ist. Im Kontext der Gastfreundschaft gehört es zum guten Ton, dass der Gastgeber dafür sorgt. An ein Vollbad konnten sich Teilwaschungen anschließen. Die Fußwaschung kann freiwillig von freien Personen durchgeführt werden (Abraham). Im vertrauten familiären Bereich ist sie ein Liebes- und Ehrerweis, bis hin zu erotischen Konnotationen in intimen Beziehungen. Nur beim Erzwingen einer Fußwaschung ist diese Handlung mit einer Erniedrigung des ausführenden Subjekts belegt (:195–197).
4. Marias Salbung der Füße Jesu (Joh 12,1-11)
5. Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1-20)
6. Beauftragt zu lieben (Joh 15,1-17)
7. Ergebnisse
Würdigung
Das Buch von Anni Hentschel ist eine gründliche und fundierte Untersuchung der Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium (Joh 13,1-20). Die Autorin analysiert die literarische, historische und theologische Bedeutung dieser Erzählung, die eine zentrale Rolle im johanneischen Verständnis von Jesus und seiner Nachfolge spielt. Dabei berücksichtigt sie sowohl die intertextuellen Bezüge zu anderen biblischen Texten als auch die Wirkungsgeschichte der Fußwaschung in der christlichen Tradition.
Das Buch von Anni Hentschel ist eine wertvolle Bereicherung für die johanneische Forschung und für alle, die sich für die biblische Theologie interessieren. Die Autorin zeichnet sich durch eine klare und verständliche Sprache aus, die auch für Laien gut nachvollziehbar ist. Sie argumentiert überzeugend und differenziert, ohne sich in Details zu verlieren. Sie zeigt, wie die Fußwaschungserzählung nicht nur ein eindrückliches Bild von Jesus als dem dienenden Herrn vermittelt, sondern auch eine Herausforderung für seine Jüngerinnen und Jünger darstellt, ihm in Liebe und Demut nachzufolgen.
Quellen
1 Eine Analyse sämtlicher literarischer Darstellungen von Fußwaschungen und ihren möglichen Bedeutungszuschreibungen sieht Hentschel als Forschungsdesiderat an. Der RAC-Artikel von Bernhard Kötting (1972) ist bisher von der jüngeren Forschung nicht eingeholt worden (:126f).