Das christliche Menschenbild und die Tugendethik

Während die antike Philosophie1 sich darin einig war, dass ein tugendhaft gutes Leben möglich sei2, wurde eine solche Prämisse von den Reformatoren bezweifelt bzw. entschieden abgelehnt worden. Im Folgenden stelle ich (1.) die reformatorische Position nach M. Luther dar, weise (2.) auf das zuvor von Thomas von Aquin eingeführte Gegenmodell hin und schlage (3.) einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma am Konzept der Ebenbildlichkeit des Menschen vor, indem ich mit einigen (harmonisierenden) Thesen schließe.

1. Die evangelische Position: Der Mensch kann nicht!

Eine Tugendlehre als Ethik der Erlösten […] ist mit reformatorischem Denken unvereinbar. Das ist aus der ’streng auf das Religiöse gebauten Sittlichkeit‘ Luthers klar zu ersehen.

J. Klein: Art. „Tugend“, RGG (Tübingen: 1962, 3. Aufl.), 1084.

Das Zitat von J. Klein fasst im Allgemeinen die evangelische Position des frühen 20. Jhr. im Bezug auf die Tugendethik zusammen. Diese Sichtweise haben die Forscher von den Reformatoren, insbesondere M. Luther und J. Calvin geerbt.

Prof. Dr. Berthold Wald fasst die Position Luthers und seine Unterscheidung zwischen Mensch und Person (!) zusammen:

Prof. Dr. Berhold Wald Statement 1 (c) http://werwarluther.de/von-der-tugendethik-zur-ethik-des-utilitarismus/

„Fides facit personam, persona facit opera.“ (Dt.: Erst der Glaube macht die Person, die Person macht die Werke.)

Martin Luther (c) werwarluther.de

Wie Prof. Wald ausführt, begründet sich Luthers Unterscheidung zwischen Mensch und Person im Konzept des „unfreien Willens“. Diese Debatte hat Luther mit Erasmus von Rotterdam geführt. Wenn man sich den Mensch als eine Burg vorstellen würde, dann ist bei Erasmus die Burg „wohl weitgehend vom Feind erobert, aber im Bergfried, im innersten Refugium, brennt noch das Lämplein der Freiheit“.3 „Für Luther ist gerade das innerste Zentrum („Herz“, „Gewissen“) längst vom Feind erobert, ja zur Kommandozentrale des Satans umfunktioniert.“4

Was versteht Luther nun unter dem „unfreien Willen“? Zunächst ist festzuhalten, dass Luther nicht den Determinismus (alles ist vorherbestimmt, der freie Wille nur eine Illusion) vertritt. Vielmehr unterscheidet Luther zwischen „Inferiora“ und „Superiora„. Erstere sind Dinge, die niedriger sind als wir und über die wir verfügen können, z. B. Essen und Trinken, Fleiß und Faulheit, Berufswahl, Modefragen usw. Hier hat der Mensch durchaus einen Ermessens- und Handlungsspielraum, kann durchaus wählen.5 Die Superiora sind wesenhaft höher als wir, nämlich die Frage nach dem Gottesverhältnis und Verdammnis.6 Hier ist der menschliche Wille wie ein Lasttier, auf dem entweder Gott oder Satan sitzt. Der Mensch wird „geritten“, d.h. der Mensch kann die innere Bestimmung des Willens von sich aus nicht ändern (:96). Ein neues Wollen verlangt eine „neue Kreatur“ (:97). Daher knüpfen die Imperative der Schrift („du sollst heilig leben“) an die Illusion eines „freien Willens“ an, um „gerade die heilsame, die notwendige ‚Ent-Täuschung‘ zu vollziehen“.7

Unklar bleibt für mich, wohin Luther die Bildung eines guten Charakters einordnen würde. Denkbar wäre ja die Zuordnung zum inferioren Gebiet. Dann wäre auch nach lutherischer Sicht die Möglichkeit einer sittlichen Prägung des Menschen (z. B. auch die Kindererziehung) denkbar. Es scheint aber tendenziell so zu sein, dass Luther den Charakter zum Wesen des Menschen rechnet und damit Charakterbildung im aristotelischen Sinne für den Menschen ausschließt. Erst wenn der Mensch Person wird, d.h. Jesus Christus glaubt, kann eine Transformation erfolgen. Wenn man aber den Ausführungen von Prof. Wald folgt, dann ist nach Luther nicht die Transformation selbst Ziel des ethisch guten Handelns, sondern: „Wer frei und unbesorgt um sein Heil allein den Nutzen des Anderen vor Augen hat, dessen Glaube ist echt und damit auch sein Heil gewiss.“8 Das ethische Handeln für die Person ist ohne jegliche Bedeutung, denn es gilt allein der Glaube. Lediglich in der freien sich selbst vergessenden Zuwendung zum Nächsten liegt der Nutzen des ethischen Handelns. Diese spezifische Art zu Handeln dient schließlich der Vergewisserung des Glaubens der Person.

2. Die katholische Position: Thomas von Aquin – Natur und Gnade

Thomas von Aquin prägte den Satz: „Gnade setzt Natur voraus und vollendet sie.9 Für den Scholastiker sind die Wirklichkeitsbereiche Natur (die natürliche Wirklichkeit) und Gnade (die übernatürliche Wirklichkeit) nicht Gegensätze – wie etwa bei den Reformatoren, sondern sie werden „als Ergänzung zum Guten“ verstanden (:129). So haben die Scholastiker dem Menschen durchaus zugestanden, dass die Vernunft nicht völlig von der Sünde korrumpiert ist. Damit ist eine Tugendethik innerhalb der scholastischen (bzw. katholischen) Theologie anschlussfähig und legitim, auch für den Menschen ohne Christus.

Gelebte Tugenden sind wie bequeme Schuhe – sie erleichtern das Leben, ohne das man es merkt (A. Drews)

3. Die Ebenbildlichkeit des Menschen – Ist das nicht die Lösung aus dem Dilemma?

Die Crux der reformatorischen Position zeigt sich am Konzept der Ebenbildlichkeit. Wie Ron Kubsch ausführt, haben die Reformatoren zurecht10 die patristisch-mittelalterliche imago-Lehre abgelehnt. Damit haben sie aber jegliche Unterscheidung negiert, was dann zur Folge hatte, dass sowohl M. Luther als auch J. Calvin die Gottebenbildlichkeit des Menschen nach dem Fall gänzlich bestritten haben:

„Das Ebenbild Gottes ist also die ursprünglich hervorragende Stellung der menschlichen Natur, die in Adam vor dem Fall hell erstrahlte, danach aber derart verderbt, ja schier zerstört worden ist, dass aus dem Untergang nur noch Verworrenes, Verstümmeltes und Beflecktes übrig geblieben ist.“

J. Calvin, Institutio I,15,3.

Erst in der altprotestantischen Orthodoxie kam es dann zu einer Differenzierung, die den biblischen Befund sachgemäßer abdeckt. E. Brunner unterschied zwischen einer Gottebenbildlichkeit im allgemeinen Sinn (imago Dei generaliter) und im besonderen Sinn (imago Dei specialiter). Die allgemeine Ebenbildlichkeit ist strukturell und betrifft die Personalität des Menschen. Die besondere Ebenbildlichkeit umfasst die Urgerechtigkeit, ist nach dem Fall verloren gegangen und wird dem Menschen im Stand der Gnade (wieder) geschenkt. Neutestamentlich müsste diese Differenzierung noch gesteigert werden, indem die neue Kreatur (2Kor 5,17) „durch den Geist des Herrn zum vollkommenen Ebenbild des Sohnes Jesus Christus erneuert (vgl. Röm 8,29; 2Kor 3,18; Eph 4,24 u. Kol 3,10)“11 wird.

Wenn man nun einen Schritt weiter geht und mit C. J. Collins die Ebenbildlichkeit ontologisch, relational und funktional definiert,12 wäre folgendes Modell nach E. Brunner und C. J. Collins denkbar:

  • 1) Die Ebenbildlichkeit ist ein Zuspruch Gottes an jeden Menschen, unabhängig seines Leistungsvermögens noch seiner Konstitution (W. Härle).
  • 2) Biblisch-theologische/heilsgeschichtliche Perspektive: Es gibt eine umfassende Ebenbildlichkeit vor dem Fall, eine allgemeine Ebenbildlichkeit nach dem Fall, eine im Sinne des Evangeliums wiederhergestellte im Stand der Gnade und eine vollkommene Ebenbildlichkeit mit Christus am Ende der Zeiten (eschatologische Dimension).
  • 3) Welche „Anteile“ der drei Dimensionen (ontologisch, relational und funktional) durch die Sünde ‚beschädigt‘ worden sind, bleibt ein Geheimnis. Fest steht, dass der Mensch durch die Sünde korrumpiert ist (Röm 3,23.27f). Fest steht aber auch, dass der Mensch in Sünde kraft des noch vorhandenen Potenzials (ethisch) Gutes bewirken kann. Ja, er kann im aristotelischen Sinne ein ethisch gutes Leben führen bzw. entwickeln (Röm 2,12-16), auch wenn er in der Gefahr steht, sich auf sein Tun etwas einzubilden und Gott zu verachten (vgl. Röm 1,19-24).1
  • 4) Der Geist ist imstande, den Menschen im Stand der Gnade im umfassenderen Sinne zu transformieren, da im Menschen nun „das Wollen und das Vollbringen“ durch Gott aktiv sind (Phil 2,13). Es ist also eine Kraft da, die der Mensch ohne Christus nicht kennt und über die er auch keine Vorstellung hat.

Endnoten

1. Die Philosophie der Antike verstand sich als handlungsorientierte Disziplin und nicht als nur theoretische Wissenschaft, die am grünen Tisch verhandelt wurde. Das ist bei der Verwendung des Begriffes hier stets mitzudenken.

2. Das ist die Grundmaxime sämtlicher Ethiker, wie Sokrates, Platon, Aristoteles, der Stoa, Plutarch usw.

3. Kettling, Siegfried (1993): Typisch evangelisch. Grundbegriffe des Glaubens. 4. Aufl. Gießen: Brunnen. S. 89.

4. Kettling 1993:89.

5. Vgl. Kettling 1993:92. „Auch was Menschen auf dem ‚inferioren‘ Gebiet wollen, planen, tun, ist umgriffen und gesteuert von Gottes ständigem Schaffen und Lenken“ (:94).

6. Kettling 1993:93.

7. Kettling 1993:106.

8. Prof. Wald.

9. Bei Afflerbach, Horst; Kaemper, Ralf; Kessler, Volker (2014): Lust auf gutes Leben. 15 Tugenden neu entdeckt. Giessen, Basel: Brunnen-Verl. (FW, Forum Wiedenest). S. 129.

10. Aus exegetischer Sicht ist eine Unterscheidung von demût und tsælæm in Gen 1,26 fragwürdig. Es handelt sich um einen hebräischen Parallelismus, vgl. Kubsch.

11. Kubsch.

12. Vgl. Collins, C. John (2006): Genesis 1–4. A linguistic, literary, and theological commentary. Phillipsburg: P & R Pub. S. 62f.

Fussnoten

  1. Von einer kosmologischen Pneumatologie bzw. Christologie kommend, könnte man auch urteilen, dass das Gute im Menschen ohnehin der Logos-Christus bzw. der Geist bewirkt. Jak 1,17 deutet dies aus theologischer Perspektive an.

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